Bibliotheksprojekt der 3., 4., 5. und 8. Klassen
Das Projekt:
Kaum ein Monat vergeht, in dem nicht ein klassisches Printmedium einen Kanon an Literatur vorschlägt (unlängst etwa die NYT mit The 100 Best Books of the 21st Century), während Entwicklungen wie BookTok mit ihrer neuen Form der Kanonisierung den Buchmarkt und das Leseverhalten gerade junger Menschen stark beeinflussen. In diesem Kontext ist es auch eine Frage der Bibliotheksdidaktik, was Schüler:innen lesen sollen und wie dies aktiv kommuniziert werden kann.
Was also sollen junge Menschen nach Meinung eben dieser jungen Menschen, welche die Bibliothek frequentieren, lesen?
Im Bibliotheks-Projekt sollten Antworten darauf gefunden und mitgeteilt werden. Um die Bandbreite an BibliotheksnutzerInnen einigermaßen abzudecken, wurden vier Klassen verschiedener Jahrgänge zur Teilnahme ausgewählt – eine 3., 4., 5. und 8. Klasse. In Kleingruppen wurden Listen mit Empfehlungen für die je eigene Alterskohorte ausgearbeitet, wobei der Prozess der Auswahl und der Reflexion der eigenen Kriterien und Werturteile genauso wichtig sein sollte wie das Resultat, die Mini-Kanones. In einem weiteren Schritt sollten die Ergebnisse in eine didaktisch-ästhetisch ansprechende Form gebracht werden, damit sie dann für die gegenwärtigen und zukünftigen Generationen in der Bibliothek sichtbar sind und dem Fokus auf Ästhetik auf BookTok oder Bookstagram entsprechen. Empfohlen wurde zur Gestaltung die Verwendung der App Canva o.ä., wenn zeitlich möglich, sollten aber auch Videos mit Empfehlungen erstellt werden, wie sie auf BookTok zu finden sind. Die fertigen Poster wurden gedruckt und in der Bibliothek aufgehängt, auch einige Empfehlungs-Videos sind entstanden. Alle Gruppen mussten zu Ende auch ihre Arbeitsblätter mit den ausgewählten wichtigsten Kriterien abgeben und notieren, welche Werke bereits in der Bibliothek vorhanden sind und welche anzukaufen wären (dafür wurde, wenn nötig, im Bibliothekskatalog recherchiert).
Der Kontext:
Der literarische Kanon wird definiert als eine „Zusammenstellung […] exemplarisch ausgezeichneter und daher für besonders erinnerungswürdig gehaltener Texte; ein auf einem bestimmten Gebiet als verbindlich geltendes Textcorpus“.[1] In der angloamerikanischen Literatursoziologie wurde ausgehend von einer einflussreichen Arbeit von Guillory (Cultural Capital. The Problem of Literary Canon Formation (1993)) auch argumentiert, dass terminologisch zwischen Syllabus und Canon zu unterscheiden sei. Ersterer bezeichne eine konkrete, explizite Liste von zu lesenden Werken in einem institutionellen Kontext, während der Canon eine „imaginäre“ Gesamtheit großer Werke bezeichne, somit eine Art implizite Liste, sodass die Ablehnung oder Veränderung einer konkreten Leseliste keinesfalls den Canon abschaffe, der in einer Kultur stets durchschimmert und langlebiger sei.[2]
Im 21. Jahrhundert, spätestens ab den 2010er-Jahren, ist zu bemerken, „dass sich die moderne Wissensgesellschaft auch in ihrem Umgang mit Literatur von der ihr vorausgehenden bildungsbürgerlich geprägten Gesellschaft unterscheidet“.[4]Dies lässt sich daran ablesen, dass die Wertmuster des bürgerlichen Zeitalters in der Selbstbeschreibung der Gesellschaft an Bedeutung verlieren.[5] Mit der Offenheit und Unbestimmtheit der Wissensgesellschaft oder spätmodernen Gesellschaft geht ein Infragestellen kultureller Identifikationsmuster, wie der literarische Kanon es darstellt, einher. Gleichzeitig zeigen sich in der klassischen Literaturkritik der einschlägigen Feuilletons weiterhin Wertungskriterien, „die sich der bildungsbürgerlichen autonomieästhetischen Tradition verdanken“.[6]
Dazu hin ist zu beobachten, dass sich auch das bildungsbürgerliche Selbstverständnis im Umgang mit Kanones im 21. Jahrhundert nicht verabschiedet hat[7], sondern dass es sich hält, weil es seit längerer Zeit wieder ein verstärktes Bedürfnis nach Kanones gibt, allerdings auch in Bereichen, die zuvor bildungsbürgerlich kaum oder keine Rolle gespielt haben, wie z.B. Comics/Graphic Novels, Kriminalliteratur und Computerspiele.[8]
Im deutschsprachigen Raum ist etwa Marcel Reich-Ranickis Projekt Der Kanon: Die deutsche Literatur (2002-2006) bekannt geworden. Inzwischen vergehen jedoch oft nur wenige Monate, bis international gewichtige Feuilletons neue umfangreiche Bestenlisten oder Empfehlungen abgeben. Unlängst etwa die New York Times mit ihrer Liste The 100 Best Books of the 21st Century, gewählt von RedakteurInnen, SchriftstellerInnen u.a.:
Many of us find joy in looking back and taking stock of our reading lives, which is why we here at The New York Times Book Review decided to mark the first 25 years of this century with an ambitious project: to take a first swing at determining the most important, influential books of the era. In collaboration with the Upshot, we sent a survey to hundreds of literary luminaries, asking them to name the 10 best books published since Jan. 1, 2000. Stephen King took part. So did Bonnie Garmus, Claudia Rankine, James Patterson, Sarah Jessica Parker, Karl Ove Knausgaard, Elin Hilderbrand, Thomas Chatterton Williams, Roxane Gay, Marlon James, Sarah MacLean, Min Jin Lee, Jonathan Lethem and Jenna Bush Hager, to name just a few. And you can also take part! Vote here and let us know what your top 10 books of the century are.[9]
Auch der britische Guardian publizierte eine Liste der 100 besten Bücher des 21. Jahrhunderts.[10] Der Spiegel wiederum präsentierte die „besten 100 Bücher aus 100 Jahren“ (1924-2024).[11] Die Zeit veröffentlicht zum Vierteljahrhundert einen Sonderband namens Die besten Einfälle des 21. Jahrhunderts: Der Kultur-Kanon der ZEIT.Darin inbegriffen sind Bestenlisten und Texte zu Literatur, Filmen/Serien, Produkten, Songs und Kunst/Ausstellungen.[12] Der Band dient damit als eine Art kulturell-gesellschaftlicher Universal-Kanon für alle, die sich die Werke nochmals in Erinnerung rufen wollen und zugleich für jene, welche die Werke erstmals erleben möchten, d.h. vermeintlich oder tatsächlich etwas nachzuholen haben.
Als weiteren Beleg für das in der Forschungsliteratur zum Thema Kanon konstatierte verstärkte Bedürfnis nach Bestenlisten im 21. Jahrhundert ließe sich BookTok anführen und damit ein Trend, der die Bedeutsamkeit sozialer Medien für junge Menschen mit dem Wunsch nach Empfehlungen (und in der Kombination eine Art BookTok-Kanon) und die Erweiterung der Bereiche oder Genres, auf die sich Empfehlungen in der post- oder spätbildungsbürgerlichen Gesellschaft beziehen können, kombiniert.
In Projekt wurde versucht, unterschiedliche Aspekte im Kontext der Schulbibliothek zu verbinden: Das Bedürfnis nach Kanones in der Wissensgesellschaft, die Reflexion eigener oder zeitgenössischer Kriterien zur Wertung von Literatur, die Verwendung von sozialen Medien sowie natürlich die Bibliotheksdidaktik.
Hier noch der Link zum Video: https://youtu.be/WYKXVWzVzLo
[1] Rainer Rosenberg: Kanon. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. Von Georg Braunhart et.
al. Band II. Berlin/New York 2000, S. 224.
[2] Vgl. Elisabeth Stuck: Kanon und Literaturstudium. Theoretische, historische und empirische Untersuchungen
zum akademischen Umgang mit Lektüre-Empfehlungen. Paderborn 2004, S.75f.
[3] Vgl. Renate von Heydebrand: Kanon und Kanonisierung als ‚Probleme‘ der Literaturgeschichtsschreibung –
warum eigentlich? In: Peter Wiesinger (Hg.): Kanon und Kanonisierung als Probleme in der
Literaturgeschichtsschreibung. Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000. Jahrbuch für
Internationale Germanistik. Band 8. Bern 2003, S. 15.
[4] Matthias Beilein/Claudia Stockinger/Simone Winko: Einleitung. Kanonbildung und Literaturvermittlung in
der Wissensgesellschaft. In: Dies. (Hg.): Kanon, Wertung und Vermittlung: Literatur in der Wissensgesellschaft.
Göttingen 2012. S. 1.
[5] Vgl. Manfred Fuhrmann: Bildung. Europas kulturelle Identität. Stuttgart 2002.
[6] Beilein/Stockinger/Winko 2012, S. 2.
[7] Dies zeigt sich offensichtlich auch in Bereichen, in denen man es nicht vermuten würde: so in Zeitungen in
Ressorts jenseits des Feuilletons, wo der literarische Kanon eine unerwartet große Rolle zu spielen scheint, wie
Anja Heumann zeigt: Anja Heumann: Der literarische Kanon in journalistischen Texten. In:
Beilein/Stockinger/Winko 2012 (Hg.): Kanon, Wertung und Vermittlung: Literatur in der Wissensgesellschaft.
Göttingen 2012, S. 1.
[8] Vgl. Beilein/Stockinger/Winko 2012, S. 2.
[9] https://www.nytimes.com/interactive/2024/books/best-books-21st-century.html, Zugriff 2.6.2025.
[10] Vgl. https://www.theguardian.com/books/2019/sep/21/best-books-of-the-21st-century, 2.6.2025.
[11] https://www.spiegel.de/kultur/literatur/spiegel-literaturkanon-die-besten-100-buecher-aus-100-jahren-a-
e1e74cd7-9cd8-4743-9334-1622cab3ddb4, Zugriff 2.6.2025.
[12] Vgl. https://shop.zeit.de/ZEIT-Edition-Die-besten-Einfaelle-des-21.-Jahrhunderts/49883, Zugriff 2.6.2025.